Nina Van Gorkom. Abhidhamma im Alltag


Vorwort


Die Lehre des Buddha, die im 'Tipitaka' (dem sogenannten 'Drei-Korb') enthalten ist, unterteilt sich in:

  1. Vināya (Buch der Disziplin für die Mönche)
  2. Sutten (Lehrreden)
  3. Abhidhamma

Alle drei Teile des Tipitaka können eine unerschöpfliche Quelle zur Begeisterung und Unterstützung beim Praktizieren der Lehre sein, was dann allmählich zur Ausrottung der falschen Ansicht und anderer Befleckungen führt.

In allen drei Teilen des Tipitaka wird 'Dhamma' gelehrt, das, was wirklich ist. Sehen ist Dhamma, es ist wirklich. Farbe ist Dhamma, es ist wirklich. Fühlen und Empfinden ist Dhamma, es ist wirklich. Unsere Befleckungen sind Dhamma, sie sind Wirklichkeiten.
Als dem Buddha seine Erleuchtung zuteil geworden war, erkannte er klar alle Dhamma, wie sie wirklich sind. Er lehrte uns Dhamma, damit auch wir Wirklichkeiten sehen, wie sie wirklich sind.

Ohne die Lehre des Buddha wären wir unwissend über Wirklichkeiten. Wir neigen dazu, das, was vergänglich ist, für nicht vergänglich zu halten, das, was leidvoll ist, für erfreulich zu halten, das, was Nicht-Selbst ist, für Selbst zu halten. Das Ziel aller drei Teile des Tipitaka ist, den Menschen die Entfaltung des Weges zu zeigen, der zum Ende aller Befleckungen führt.

Der Vināya enthält die Regeln für die Mönche, nach denen das 'Brahmanen-Leben' zur Vollendung gebracht werden kann, um jenes„unübertreffliche Ziel des Brahmanen-Lebens zu erreichen, es durch eigenes Erleben zu erfahren, um dessen willen Familienangehörige aus dem Hause in die Heimatlosigkeit ziehen..." ('Gradual Sayings', Book of the Fives, Ch. VI, par. 6, The preceptor).

Das Ziel des 'Brahmanen-Lebens' ist die Tilgung aller Befleckungen. Nicht nur Mönche, sondern auch Laien sollten den Vināya studieren. Wir lesen von Beispielen, in denen Mönche von der Reinheit ihres Lebens abwichen. In einem solchen Falle wurde eine Regel niedergelegt, die ihnen helfen sollte, wachsam zu sein.
Wenn wir den Vināya studieren, werden wir an unser lobha (Bindung an und Neigung zu den Dingen), dosa (Abneigung, Haß) und moha (Unwissenheit, Verblendung) erinnert: sie sind Wirklichkeiten. So lange sie nicht ausgemerzt worden sind, können sie zu jeder Zeit wieder entstehen. Wir werden daran erinnert, wie tief Befleckungen verwurzelt sind und wohin sie führen können. Bedenkt man dies, fühlt man sich dazu gedrängt, den edlen Achtfachen Pfad zu entfalten, der zur Tilgung von falscher Ansicht, Eifersucht und Neid, Geiz, Eigendünkel und anderer Fehler führt.

In den Sutten wird an vielen Orten den verschiedensten Menschen Dhamma gelehrt. Der Buddha sprach über die Wirklichkeiten, die durch die sechs Pforten erscheinen. Er lehrte Ursache und Wirkung und zeigte den Weg, der zum Ende des Leidens führt.

Der Abhidhamma ist eine Darstellung aller Wirklichkeiten in Einzelheiten.

'Abhi' bedeutet wörtlich 'höher'. 'Abhidhamma' bedeutet somit 'höhere Lehre'. Die Fassung dieses Teils des Tipitaka ist von den anderen Teilen verschieden. Das Ziel aber ist das gleiche: die Tilgung von falscher Anschauung und im Laufe der Zeit anderer Befleckungen. Wenn wir also die vielen Aufzählungen der Wirklichkeiten studieren, sollten wir nicht die wahre Absicht unseres Studiums vergessen. Die Theorie (Pariyatti) sollte uns zur Praxis ermutigen, die zur Erkenntnis der Wahrheit (Pativedha) notwendig ist. Das Studium der verschiedenen nāma und rūpa und das Nachdenken über sie soll uns daran erinnern, der nāma und rūpa bewusst zu werden, die in jenem Augenblicke erscheinen. Hierdurch werden wir mehr und mehr entdecken, daß der Abhidhamma alles das betrifft, was wirklich ist, und das sind die Welten, die durch die sechs Pforten erscheinen.

Dieses Buch soll als Einführung in das Studium des Abhidhamma dienen. Ich hoffe, daß der Leser, statt durch die vielen Aufzählungen und Pali-Begriffe entmutigt zu werden, ein wachsendes Interesse an den Wirklichkeiten entwickelt, die in und um ihn herum erlebt werden können.
In meinem Studium des Abhidhamma war Sujin Boriharnwanaket von unermeßlichem Beistand und Vermittlerin zur Inspiration. Sie ermutigte mich zu der eigenen Entdeckung, daß der Abhidhamma Wirklichkeiten betrifft, die durch Augen, Ohren, Nase, Zunge, den Körper und das Geisttor erfahren werden können. Dadurch habe ich gelernt, daß das Studium des Abhidhamma ein Vorgang ist, der sich ein ganzes Leben hindurch fortsetzt. Ich hoffe, daß der Leser ein ähnliches Erlebnis hat und er voller Begeisterung und Freude die Wirklichkeiten studiert, die erlebt werden können.

Ich habe viele Male aus den Sutten zitiert, um zu zeigen, daß die Lehre, die im Abhidhamma enthalten ist, sich nicht von der Lehre in den anderen Teilen des Tipitaka unterscheidet. Für die Zitate habe ich meistens die englische Übersetzung der 'Pali Text Society' (Translation Series) benutzt. Für die Zitate aus dem 'Visuddhimagga' (Pfad der Reinheit) habe ich die Übersetzung von Bhikkhu Nānamoli (Colombo, Sri Lanka, 1964) benutzt. Die im Anschluß an die Kapitel beigefügten Fragen sollen dem Leser helfen, über das Gelesene nachzudenken.

Der ehrwürdige Prah Dhammadharo Bhikkhu war durch seine Vorschläge äußerst behilflich bei der Verbesserung des Buchtextes. Durch sein Bemühen ist der Druck und die Herausgabe dieses Buches möglich gemacht worden.

Den Haag, Nina van Gorkom
Niederlande 1975